Grundsätzlich dürfen in der Schweiz nur Arzneimittel abgegeben werden, die von der Arzneimittelbehörde Swissmedic auf ihre Sicherheit, Wirksamkeit und Qualität geprüft und zugelassen worden sind. Der breite und gleichberechtigte Zugang für die Patientinnen und Patienten zu einer Therapie erfolgt erst, indem das Bundesamt für Gesundheit die Therapie auf die Spezialitätenliste und somit in die Vergütungspflicht der Krankenversicherungen aufnimmt. Dafür müssen die Kriterien Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit des Medikaments erfüllt sein. Es kann vorkommen, dass ein Medikament trotz Aufnahme in die Spezialitätenliste oder aus anderen Gründen nicht über die Spezialitätenliste vergütet werden kann. Für diese Fälle ist der Artikel 71a-d der Verordnung über die Krankenversicherung (KVV) eine Erfolgsgeschichte: Wenn Patientinnen und Patienten ein Arzneimittel benötigen, das nicht von der Schweizer Zulassungsbehörde Swissmedic zugelassen ist oder nicht auf der Spezialitätenliste des Schweizer Bundesamtes für Gesundheit steht und somit nicht durch die obligatorische Krankenversicherung vergütet wird, ist der Artikel 71a-d KVV das «Rettungsboot». Durch ihn erhalten Schweizer Patientinnen und Patienten Zugang zu medizinisch notwendigen Therapien, auch wenn beispielsweise eine spezielle Indikation nicht zugelassen ist (gemeinhin als „Off-Label Use“ bezeichnet). Bedingungen sind: Die Krankheit verläuft tödlich oder kann chronische gesundheitliche Beeinträchtigungen nach sich ziehen; vom Einsatz des Medikaments wird ein grosser therapeutischer Nutzen erwartet; es fehlt eine wirksame und zugelassene Alternative; und der therapeutische Nutzen muss in einem angemessenen Verhältnis zu den Kosten stehen. Profitieren sollen von der Verordnung also vor allem PatientInnen, für die (neue) Therapiemöglichkeiten die Rettung in letzter Minute sind und die als Einzelfälle gelten.
Der off-label use spielt zum Beispiel eine Rolle bei der klinischen Forschung mit Kindern. Dort sind besonders komplexe ethische Aspekte zu beachten. Bei seltenen Krankheiten werden zudem einzelne Indikationen nie einen vollen Zulassungsstatus erreichen, da die Anzahl der Patientinnen und Patienten zu klein ist, um klinische Studien durchführen zu können.
Herausforderungen in der Einzelfallvergütung
Heute ergeben sich neue Herausforderungen durch die letzte Revision im Jahr 2024. Gemäss einer Befragung von Interpharma und vips haben viele Unternehmen – trotz der massiv verschlechterten Bedingungen bei der Vergütung im Einzelfall – Lösungen gefunden, um die Patienten weiter zu versorgen. Dennoch haben nach der Umsetzung der KVV-Revision zwischen dem 1. April und dem 31. Dezember 2024 über 1’500 Patienten den Zugang in der Einzelfallvergütung verloren, die vorher noch Zugang hatten. Auf das Jahr hochgerechnet sind dies über 2’000 Fälle. Das Problem sind die hohen und fixen Preisabschläge, die neu zusätzlich auch mit einigen weiteren Rabatten kumuliert werden. In Fällen von zu hohen Rabatten (z.B. bis zu 90%) kann es für die Zulassungsinhaberin schlicht nicht mehr nachhaltig sein, das Produkt anzubieten.
Hinzukommt die weiter fortbestehende Ungleichbehandlung der Patientinnen und Patienten durch die Krankenversicherungen. Vor diesem Hintergrund sind der Zugang und die Vergütung von Arzneimitteln im off-label use nicht immer für alle Betroffenen gleich. Es kann zu Ungleichbehandlungen je nach Versicherer oder infolge unterschiedlicher Entscheidungen kommen.
Umso wichtiger ist es, das Grundproblem zu beheben, indem das veraltete Preisbildungssystem für die standardmässige Vergütung die Spezialitätenliste gesamtheitlich modernisiert wird. Denn Artikel 71 hat sich in den Jahren als eine Art Überbrückungslösung für Präparate entwickelt, die bei der Aufnahme in die Spezialitätenliste „im Stau stecken“. Neue innovative Arzneimittel stehen in der Schweiz seit 2016 zunehmend nur noch stark verzögert zur Verfügung, wie Statistiken von Interpharma zeigen. Das führt dazu, dass Ärztinnen und Ärzte immer öfter auf den Artikel 71 ausweichen, um ihren Patienten die bestmögliche Behandlung zu ermöglichen, und dass dieses Instrument in der Folge überlastet wird. Das ist kontraproduktiv, weshalb der reguläre Vergütungsprozesses verbessert und der Artikel 71-Prozess zu seiner ursprünglichen Bestimmung als Einzelfallregelung zurückgeführt werden sollte.
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