Blogbeitrag: Warum der Einbezug klinischer Experten bei der Einzelfallvergütung wichtig ist - Interpharma

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30. Juni 2023

Blogbeitrag: Warum der Einbezug klinischer Experten bei der Einzelfallvergütung wichtig ist

Gerade im Bereich der Einzelfallvergütung (Art. 71a-d KVV) ist nicht immer gewährleistet, dass alle Versicherten bei Bedarf Zugang erhalten und gleichbehandelt werden: Im Rahmen des Swiss Patient Access Pilot (SPAP) prüften klinische Fachexperten insgesamt 290 Anträge auf Vergütung, die von Krankenversicherern zuvor doppelt abgelehnt worden waren. 191 dieser Fälle wurden gutgeheissen – und damit eine Therapie für die Betroffenen ermöglicht. Das zeigt: Der Einbezug klinischer Fachexperten verbessert den Zugang zu Krebstherapien. Eine gute und wichtige Nachricht für die Patientinnen und Patienten in der Schweiz.

Der Artikel 71a-d KVV ist eine Erfolgsgeschichte: Durch ihn können zahlreiche Schweizer Patientinnen und Patienten von einem Zugang zu medizinisch notwendigen Therapien profitieren, auch wenn beispielsweise eine Indikation nicht von der Arzneimittelbehörde Swissmedic zugelassen ist (gemeinhin als «off-label use» bezeichnet). Ausserdem kann über Artikel 71 auf einfache Weise ein noch nicht von Swissmedic zugelassenes Arzneimittel vergütet werden. Der Artikel 71a-d KVV ist daher aus der Schweizer Patientenversorgung – insbesondere auch in der Onkologie – nicht mehr wegzudenken.

Ein am 18. Dezember 2020 vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) publizierter Evaluationsbericht zur Vergütung von Arzneimitteln im Einzelfall zeigte, dass dank der aktuellen Regulierung der rasche Zugang für Patientinnen und Patienten zu lebenswichtigen Medikamenten sichergestellt ist, auch wenn diese nicht auf der Spezialitätenliste (SL) aufgeführt sind. Ohne den Verordnungsartikel wäre die Zugangssituation deutlich schlechter. Die Autoren des Berichts orteten allerdings bereits damals Verbesserungsbedarf bei der Effizienz der Prozesse und bei der Gleichbehandlung der Versicherten.

Gleichbehandlung der Patienten nicht immer gegeben

Tatsächlich ist nicht immer gewährleistet, dass alle Versicherten bei Bedarf Zugang erhalten und gleichbehandelt werden: Denn jede Krankenkasse entscheidet bei Einzel- oder Härtefällen nach Art. 71a-d KVV selbst, ob sie die Behandlung bezahlen will – oder nicht (siehe NZZ-Beitrag). Im Extremfall kann das bedeuten, dass der eine, bei Krankenkasse X versicherte krebskranke Patient Zugang zur Behandlung erhält, eine andere, bei Krankenkasse Y versicherte Patientin jedoch nicht. Das ist stossend: Alle Prämienzahlende sollten als Patienten gleichbehandelt werden und darauf vertrauen können, dass sie Zugang zu lebenswichtigen Behandlungen erhalten, die nach dem Urteil von Fachexperten in ihrem Fall auch optimal wirken. Leider ist das nicht immer gegeben.

Tatsache ist: Heutige Therapien werden immer komplexer und die Medizin immer spezialisierter. Das stellt die heutigen Prozesse der Bewertung und Vergütung von Arzneimitteln zunehmend vor Herausforderungen. Gerade deshalb ist es wichtig, dass die Expertise von ausgewiesenen Fachleuten systematisch bei solchen Einzelfall-Entscheiden eingebunden wird. Fachexperten aus den relevanten Therapiegebieten könnten die Vertrauensärzte der Krankenversicherungen bei Ihrer Arbeit unterstützen und so eine raschere und konsistentere Beurteilung der Fälle erreichen. So könnte sichergestellt werden, dass Patientinnen und Patienten den Zugang zur für sie medizinisch indizierten Behandlung erhalten. Mit dem «Swiss Patient Access Pilot» (SPAP) wurde ein solcher Experteneinbezug im Rahmen eines Pilotprojekts in der Praxis getestet:

Pilotprojekt ermöglichte in fast 200 Fällen Therapie-Zugang für Betroffene

Im Rahmen des SPAP-Projekts prüften klinische Fachexperten insgesamt 290 Anträge auf Vergütung, die von Krankenversicherern zuvor doppelt abgelehnt worden waren. 191 dieser Fälle wurden gutgeheissen – und damit eine Therapie für die Betroffenen endlich ermöglicht. Im SPAP-Pilot haben die beteiligten Pharmafirmen die Kosten für die Medikamente vollumfänglich bis zum Abbruch der Therapie (oder dem Tod des Patienten) übernommen, respektive Leistungserbringern zurückerstattet. Im Rahmen der 191 gutgeheissenen Fälle wurden somit über 800 Medikamentenrückforderungen getätigt, was einem Gesamtwert von CHF 4.6 Millionen an Medikamentenkosten entspricht, die von den Pharmafirmen zur Verfügung gestellt wurden.

In 191 von total 290 begutachteten Fällen revidierten klinische Fachexperten das Ergebnis der von den Krankenkassen vorgenommenen Begutachtung. Quelle: SPAP (2023), Schlussbericht, S. 22.

Experten nur in 10% der Fälle mit Entscheiden der Versicherungen einverstanden

In etwa 60% der von Experten geprüften 121 Fälle waren mangelnde Evidenz, in 26% eine Therapiealternative und in 14% der Fälle beides zweifache Ablehnungsgründe der Krankenversicherungen. In allen drei Kategorien war jedoch die vorhandene wissenschaftliche Evidenz der entscheidende Faktor für eine Gutheissung der Anträge durch die SPAP-Experten, gefolgt von der individuellen Patientensituation. Dies weist darauf hin, dass die Experten vor allem bei der Einschätzung der klinischen Evidenz und Patientensituation die Entscheidungen der Krankenversicherer anders bewerten. Somit generiert ein Expertengremium gerade in diesen Bereichen einen klaren Mehrwert. Interessanterweise waren die Experten nur in etwa 10% der Fälle mit dem ablehnenden Entscheid der Versicherungen einverstanden.

Die Befunde zeigen, dass die Experten vor allem bei der Einschätzung der klinischen Evidenz und Patientensituation die Entscheidungen der Krankenversicherer anders bewerten. Quelle: SPAP (2023), Schlussbericht, S. 18.

Das zeigt: Der Einbezug klinischer Fachexperten verbessert den Patientenzugang bzw. die Versorgungssituation und kann pragmatisch implementiert werden. Das ist eine gute und wichtige Nachricht für die Patientinnen und Patienten in der Schweiz. Konsequenterweise sollte dieses Instrument daher im Rahmen der aktuellen KVV/KVG-Revision umgesetzt werden. Auch sollten zukünftig im Rahmen des ordentlichen Prozesses der Aufnahme von Arzneimitteln auf die Spezialitätenliste systematisch klinische Experten mit Erfahrung in den relevanten Therapiegebieten miteinbezogen werden.


SPAP in Kürze – worum es geht

Der Swiss Patient Access Pilot (SPAP) war ein Multi-Stakeholder-Projekt zur Förderung des Zugangs von Patienten zu medizinisch indizierten Krebsmedikamenten. Das Pilotprojekt wurde 2019 initiiert und die erste Pilotphase dauerte bis März 2021.

Basierend auf den gewonnenen Erkenntnissen wurden daraufhin in einer zweiten Pilotphase bis Ende 2022 in einer Arbeitsgruppe konkrete Handlungsempfehlungen erarbeitet. Bis Ende 2022 wurden auch weiterhin Patienten in den Piloten eingeschlossen.

Wer waren die Projektpartner?

Die initialen Projektpartner waren die Schweizer Niederlassungen der forschenden Pharmaunternehmen Bristol Myers Squibb, Roche Pharma Schweiz und die Schweizerische

Gesellschaft für Medizinische Onkologie (SGMO). Zusätzlich kamen im Laufe des Projekts seitens der Industrie Pfizer, Takeda und Novartis Pharma Schweiz dazu. Unterstützt wurde SPAP von einem breit abgestützten nationalen Begleitgremium (National Advisory Committee, NAC).

Was wollte SPAP erreichen?

Alle Krebspatienten sollen rasch Zugang zu Therapien erhalten, die medizinisch indiziert sind. Im gemeinsamen Dialog mit allen Akteuren des Schweizer Gesundheitswesens wollte SPAP Lösungen zur Verbesserung der Einzelfallvergütung in der Schweiz entwickeln.

Wie funktionierte SPAP?

SPAP setzte bei Härtefällen im Bereich der Einzelfallvergütung nach Art. 71a–d KVV an: Nach zweimaliger Ablehnung der Kostengutsprache durch die Krankenkasse konnte der behandelnde Arzt des betroffenen Patienten beim SPAP-Sekretariat einen Antrag einreichen, der durch ein unabhängiges Expertengremium der SGMO geprüft wurde. Bei positivem Entscheid wurde dem Patienten das entsprechende Medikament kostenlos durch die beteiligte Pharmafirma zur Verfügung gestellt – so lange, wie die Therapie medizinisch indiziert war.

Was sind die Haupterkenntnisse/Empfehlungen von SPAP?

Erstens ist die Zugangsgerechtigkeit im Art. 71a–d KVV-Prozess nicht für alle KVG-Versicherten   Patienten in der Schweiz gleichermassen gegeben. Somit konnte im Rahmen des Piloten der Zugang zu medizinisch indizierten Therapien für insgesamt 191 Patienten sichergestellt werden. Die klinischen Fachexperten haben total 496 Beurteilungen vorgenommen (inklusive dreifacher Prüfung einzelner Fälle bei Uneinigkeit der zwei initial prüfenden Experten) und kamen innerhalb von durchschnittlich dreieinhalb Tagen zu einer fundierten Behandlungsentscheidung. Konkret: Insgesamt sind von März 2019 bis Ende 2022 290 Anträge eingegangen, davon wurden 93 formal oder klinisch abgelehnt und 191 wurden trotz initialer doppelter Ablehnung durch die Krankenversicherer von klinischen Fachexperten gutgeheissen. In 48% der gestarteten respektive 37% der gutgeheissenen und verrechneten Fälle blieben die Krebspatienten mindestens drei Monate – teilweise auch deutlich länger (ein Fall seit 48 Monate) – auf Therapie, was nahelegt, dass die Patienten von einer Behandlung profitierten. Im Rahmen der 191 gutgeheissenen Fälle wurden über den gesamten Behandlungszeitraum der Patienten >800 Medikamente verschrieben und ein Gesamtwert von CHF 4.6 Millionen Medikamentenkosten von den Pharmafimen zur Verfügung gestellt, obgleich die Fälle medizinisch indiziert waren und zumindest als Therapieversuch im System hätten abgegolten werden müssen.

Zweitens konnte insbesondere nachgewiesen werden, dass die Einbindung eines klinischen Expertengremiums den Zugang für die Patienten zu medizinisch indizierten Krebstherapien entscheidend verbessert. Die zu Beginn des Projekts definierten drei Hypothesen, wonach

  • der Einbezug eines onkologischen Expertengremiums zu konsistenteren Entscheiden
  • und damit zu mehr prozessualer Gleichbehandlung zwischen den Patienten führt,
  • der Entscheidungsprozess durch das onkologische Expertengremium effizient und transparent ist, bei onkologischen Fällen der Entscheidungsprozess durch ein ergänzendes Expertengremium möglich ist, wurden durch die Evaluation der ersten Pilotphase durch die Hochschule Luzern (HSLU) bestätigt (siehe Kapitel 6, Ergebnisse I).

Drittens wurden basierend auf den Ergebnissen der ersten Pilotphase im Rahmen einer Arbeitsgruppe (vgl. Kapitel 7, Ergebnisse II) konkrete Handlungsempfehlungen erarbeitet, die unter anderem aufzeigen, wie ein Expertengremium in den Prozess von Art. 71a–d KVV im Schweizer Gesundheitswesen eingebunden werden kann.

Viertens wurde in diesem Rahmen auch ein Kriterienraster für die Steigerung der Objektivität und Nachvollziehbarkeit der klinischen Expertenbeurteilung der eingereichten Gesuche entwickelt.

Fünftens hat sich SPAP aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse auch mit einer Stellungnahme zur laufenden KVV-Revision geäussert und fordert aufgrund der Erkenntnisse insbesondere den zwingenden Einbezug eines unabhängigen Expertengremium im Prozess des Art. 71a–d KVV.

Zu guter Letzt konnte der SPAP eindrücklich zeigen, dass sich die unterschiedlichsten Akteure im Gesundheitswesen konstruktiv zusammentun können und sich mit breit abgestützten Pilotprojekten praktische Erkenntnisse gewinnen lassen, die dauerhaft einen direkten Nutzen für Patienten haben.


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Markus A. Ziegler

Mitglied der Geschäftsleitung / Leiter Market

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