15. Februar 2022
Sichere Supply Chains: Europa muss zusammenarbeiten
Von René Buholzer, CEO Interpharma
Seit der Schweizer
Bundesrat im Mai 2021 die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit der EU
abgebrochen hat, liegen die Beziehungen Schweiz –EU im Argen. Doch beide Seiten
hätten ein vitales Interesse an guten, stabilen und partnerschaftlichen Verhältnissen.
Denn die momentane Situation unterminiert die Wettbewerbsfähigkeit der forschenden
Pharma-Firmen sowohl in der EU wie in der Schweiz. Beide Seiten sollten deshalb
wieder pragmatisch zusammenarbeiten und die Blockade durchbrechen.
Es war dicke Post, die
Martin Selmayr 2019 an die EU-Kommission schickte. Der damalige Generalsekretär
hielt in einer Weisung fest, dass bis zum Abschluss eines Rahmenabkommens der
Zugang der Schweiz zum EU-Binnenmarkt nicht aktualisiert oder erweitert werden
soll. Diese Doktrin hat die EU bekannterweise beibehalten. Weniger bekannt ist
hingegen die Ausnahme darin. Geht es um „übergeordnete Interessen“, kann die EU
die Zusammenarbeit mit der Schweiz weiterhin vertiefen. Diesen Interessen
folgend hat die EU im Sommer 2021 das Abkommen über den Landesverkehr aufdatiert.
Der entsprechende Pragmatismus hat sich aber leider noch nicht auf Bereiche
erstreckt, die für forschenden pharmazeutische Unternehmen wichtig sind. Weder ist
die Schweiz an dem Forschungsprogramm Horizon Europe assoziiert, noch möchte die
EU das Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von technischen Konformitätsbewertungen
(MRA) aktualisieren. Dies hatte bereits zur Folge, dass die Schweizer
Medtech-Industrie nicht mehr am EU-Binnenmarkt teilnehmen kann, was in der EU
und in der Schweiz die Versorgungssicherheit vor Herausforderungen stellt.
Ein Blick auf die Statistik
macht deutlich, dass auch im pharmazeutischen Bereich übergeordnete Interessen
auf dem Spiel stehen: 2019 war die Schweiz mit 6.1 Prozent Anteil am
Gesamtexport die zweitwichtigste Abnehmerin von EU-Pharma-Produkten hinter den
USA. Umgekehrt ist die Schweiz die wichtigste Importquelle für die EU mit 13.3
Prozent.
In ihrer Pharma-Strategie hält
die EU-Kommission fest: Sie möchte mit sicheren Lieferketten die Versorgung mit
Arzneimitteln gewährleisten. Angesichts der faktischen Vernetzung ist die Schweiz
dabei eine zentrale Partnerin, wenn dieses Ziel erreicht werden soll. Schweizer
Unternehmen sind nicht nur Hersteller von Fertigprodukten, sondern auch systemrelevante
Zulieferer der EU-Unternehmen bei den Wirkstoffen (API). 17.2 Prozent dieser
stammen aus der Schweiz. Bei den Antibiotika sind es 20.8 Prozent.
Die EU sollte ihr Ziel der resilienten Lieferketten nicht
aus sachfremden Gründen unterminieren
Das MRA zwischen der
Schweiz und der EU stellt sicher, dass technische Handelshemmnisse im Handel
mit pharmazeutischen Produkten abgebaut werden. Das verhindert mehrfache
Zertifizierungen von Chargen und Inspektionen von Produktionsstätten, was die
Transaktionskosten erheblich senkt. Was passiert, wenn diese Handelserleichterungen
wegfallen, zeigt sich derzeit bei der Medizintechnik-Industrie. Die
Nichtaktualisierung des MRA hat auf beiden Seiten zu Unterbrüchen in den
Lieferketten und Versorgungsengpässe gesorgt.
Die EU wird in den
kommenden Jahren ihren Acquis im Kontext der Pharma-Strategie anpassen. Dies
wird auch Auswirkungen auf die Kapitel 14 und 15 des MRA mit der Schweiz haben.
Damit ist klar: Wird aus sachfremden und politischen Gründen keine Aufdatierung
des MRA mit der Schweiz erfolgen, untergräbt die EU ihr strategisches Ziel der resilienten
Lieferketten nicht nur zum Schaden der Schweiz, sondern auch zum Schaden der
europäischen Patientinnen und Patienten sowie des Standorts Europa für die
forschenden pharmazeutische Industrie. Diese aussenwirtschaftliche Dimension
sollte deshalb bei der Verabschiedung der EU-Pharmastrategie mitberücksichtigt
werden.
Forschungszusammenarbeit ist eine Erfolgsgeschichte
Weitere übergeordnete europäische
Interessen finden sich in der Forschungszusammenarbeit. Dass Forschende in der
Schweiz auf Augenhöhe mit EU-basierten Kolleginnen und Kollegen in den
Rahmenprogrammen Projekte realisieren können, erhöht die Attraktivität der
Forschungsstandorte in der EU und der Schweiz. In der Vergangenheit war die
Schweiz mit Beiträgen von über zwei Milliarden Franken nicht nur eine der
grössten Financiers. Sie hat sich jährlich auch erfolgreich an Hunderten von
Projekten beteiligt, was die Exzellenz ihres Forschungsstandortes widerspiegelt.
Die Bedeutung der Vernetzung der Forschenden für den Standort vergegenwärtigt folgende
Zahl: Laut EFPIA-Erhebungen war die Schweiz 2019 mit über sechs Milliarden Euro
die zweitgrösste Investorin in Forschung und Entwicklung in Europa, vor ihr
rangiert nur Deutschland mit 8.5 Milliarden Euro.
Auch zu Horizon Europe hat
die EU ein Assoziierungsabkommen bisher verweigert, weshalb die Schweiz derzeit
nicht teilnehmen kann. Wertvolle Innovations-Netzwerke drohen auseinander zu
fallen. Auch das schwächt beide Forschungsstandorte und fördert die
Orientierung in Richtung USA und Asien zum Schaden unseres Kontinentes.
Europäische Kooperation als sine qua non für einen starken
Kontinent
Die Schweiz und die EU ist
nicht nur wirtschaftlich und kulturell eng vernetzt, sondern auch auf
persönlicher Ebene. Die Assoziierung der Schweiz an Schengen (und Dublin) sowie
die Personenfreizügigkeit haben dazu beigetragen, dass täglich 330‘000
Grenzgänger zwischen der Schweiz und ihren Nachbarregionen pendeln, und fast
eine Million EU-Bürger eine Stelle in der Schweiz innehaben.
Die enge Zusammenarbeit birgt
auch in Zukunft für beide Seiten grosse Chancen – und ein Ausbleiben
entsprechende Risiken. So etwa im Bereich der Versorgungssicherheit mit Energie
(Stromabkommen) oder beim Thema eines europäischen Gesundheitsdatenraums. Solche
Systeme leben von Netzwerk-Effekten. Hier muss ganz Europa zusammenarbeiten. Denn
weltweit wird die EU nur dann eine relevante Rolle spielen, wenn sie in der
Lage ist, die Schweiz als unmittelbare Nachbarin im Herzen Europas für einen
starken Standort pragmatisch einzubinden.
Das derzeitige Vakuum in
den bilateralen Beziehungen bedeutet sowohl in der EU wie auch in der Schweiz
für Pharma-Firmen Planungsunsicherheit. Dies hemmt Investitionsentscheide
insbesondere in einer Industrie mit langfristigen Entwicklungszyklen. Bis ein
neues Medikament auf den Markt gebracht wird, dauert es zehn Jahre und mehr.
Mit anderen Worten: Weder die EU noch die Schweiz können es sich leisten,
unnötig Zeit verstreichen zu lassen. Konstruktive Lösungen sind von beiden
Seiten gefragt – Abwarten, Verzögern oder Taktieren ist in dieser Situation zum
Nachteil von allen Beteiligten.
Fazit: Gemeinsam sind wir stark
Der internationale
Standortwettbewerb im Pharma-Bereich hat sich intensiviert. Sowohl die Schweiz
wie die EU müssen sich gegen die USA und Asien bewähren. In der Vergangenheit
hatten sie dabei einen grossen Vorteil: Die enge Zusammenarbeit und Integration
der gegenseitigen Pharmaindustrien durch die bilateralen Verträge. Diesen
Wettbewerbsvorteil dürfen die EU und die Schweiz nun nicht leichtfertig aus der
Hand geben, indem sie bestehende Abkommen erodieren lassen oder aus
dogmatischen Gründen keine Neuen abschliessen. Dafür braucht es einen
konstruktiven Dialog und rasche Lösungen. Globale Wettbewerbsfähigkeit zur
Sicherung von Investitionen, Arbeitsplätzen und der Versorgung mit wichtigen
Medikamenten erreichen weder die Schweiz noch die EU alleine, sondern nur gemeinsam.
Vernunft und Pragmatismus sind nun von allen Beteiligten gefragt.