Beitrag von René Buholzer im Buch «Nationale Datenstrategie Schweiz»: Roadmap zum vernetzten Gesundheitsdatenökosystem: Sechs Handlungsfelder weisen den Weg zur digitalen Nachhaltigkeit
Das Instrument für einen verantwortungsvollen und wertschöpfenden Umgang mit Daten ist eine nationale Datenstrategie für die Schweiz. Mit ihren Denkanstössen entwerfen Experten und Expertinnen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik erstmals konkrete Rahmenbedingungen für eine digitale Schweiz im 21. Jahrhundert. Auch René Buholzer, CEO Interpharma, hat ein Kapitel beigetragen:
Gesundheitsdaten werden als das neue Öl bezeichnet, oder das
neue Gold. Für Ökonomen hinkt dieser Vergleich. Gesundheitsdaten sind kein
endliches Gut wie Öl, sie sind nicht knapp wie Gold. Im Gegenteil: Wir alle
produzieren laufend und immer mehr Gesundheitsdaten. IBM rechnet vor, dass
jeder Patient in seiner Krankenakte über das Leben verteilt 400 Gigabyte an
Daten anhäuft. Und das ist erst die Spitze des Eisbergs. Unser Erbgut umfasst 3
Milliarden Basenpaare. Zusammen mit weiteren biologischen Angaben wären das weitere
6 Terabytes – vergleichbar mit vier Monaten Video in HD-Qualität. Dennoch
lassen sich für Gesundheitsdaten zu Gold und Öl Parallelen ziehen. Erst, wenn
Gesundheitsdaten verarbeitet werden, entfalten sie ihren wahren Wert. Diese
Erkenntnis erklärt, warum sich dieses Kapitel nicht einfach mit einer Strategie
für Gesundheitsdaten befasst, sondern mit einer Strategie für ein vernetztes
Gesundheitsdatenökosystem. Damit wir das Potential von Gesundheitsdaten für die
ganze Gesellschaft freisetzen können, braucht es einen breiteren Blickwinkel
als bei einer reinen Datenstrategie. Es geht darum, wie ein System aufgezogen
werden kann, in dem die Akteure Daten erfassen, verarbeiten und miteinander
teilen können – so dass darauf aufbauend neue, innovative Angebote und
Leistungen entstehen. Die Digitalisierung liefert hierfür die technologische,
aber keine hinreichende Voraussetzung.
Bevor wir zu den weiteren Anforderungen kommen, die sich an
ein funktionierendes Gesundheitsdatenökosystem stellen, soll aber geklärt
werden, welchen Mehrwert ein solches Gesundheitsdatenökosystem liefern kann. Dies
kann entlang von drei Bereichen aufgezeigt werden.
Für die Patientinnen
und Patienten: Auf ihre Bedürfnisse ausgerichtete Medizin
Gesundheitsdatenökosysteme erlauben es, dass Patientinnen und Patienten effektive personalisierte Medizin erhalten. Also Angebote, die auf ihre tatsächlichen und individuellen Bedürfnisse abgestimmt sind. Diese Behandlungen bedingen, dass die Patienten ihre Gesundheitsdaten zur Verfügung stellen können – damit zum Beispiel Ärzte und Spitäler darauf abgestützt entscheiden können. Welcher Nutzen dadurch für Menschen entsteht, zeigt sich in einem Projekt des Pharmaunternehmens Roche mit dem Universitätsspital Zürich und der Foundation Medicine aus dem amerikanischen Cambridge. Patientinnen und Patienten teilen in diesem Projekt Daten über ihre Tumore, so dass Forschende diese analysieren und auswerten können. Die Datenbanken werden laufend ergänzt mit neuen Erkenntnissen aus der Wissenschaft. Wenn nun jemand an Krebs erkrankt, können Ärzte ein genomisches Profil seines Tumors erstellen lassen, dieses mit dem System abgleichen, und erhalten dann basierend darauf Behandlungsvorschläge. Zu diesem Diagnoseinstrument griffen die Ärzte von Michael Negrin aus Israel, einem 67-jährigen Familienvater. Bei ihm wurde Blasenkrebs festgestellt, verbunden mit der Prognose, dass er noch ein Jahr zu leben hätte. Die Chemotherapie schlug nicht an. Die Ärzte veranlassten einen Tumortest. Der ergab, dass die spezifische Form von Negrins Blasenkrebs auf Medikamente reagieren könnte, die man eigentlich Brustkrebspatienten verabreicht. Die Therapie wirkte und Negrin war knapp drei Jahre nach der Diagnose immer noch beinahe krebsfrei.
Dieses Beispiel beinhaltet bereits den zweiten Bereich, in
dem Gesundheitsdatenökosystemen Nutzen versprechen.
Für die Forschenden:
Massiver Erkenntnisgewinn
Die Triebfeder für medizinischen Fortschritt sind Daten. Je
besser Forscher diese verknüpfen können und zu grösseren Sets zusammenführen,
desto schneller und aussagekräftiger können sie Muster erkennen, Hypothesen
ableiten und diese testen. Das führt zu neuen Erkenntnissen, auf denen
aufbauend innovative Therapien und Gesundheitsangebote entstehen können. Um das
zu fördern, hat beispielsweise der britische Staat mit der UK-Biobank eine
Plattform geschaffen, mit der er Forschenden den Zugang zu Gesundheitsdaten von
einer halben Million britischen Patienten ermöglicht.
Da Gesundheitsdaten besonders sensibel sind, müssen sie verantwortungsvoll
behandelt werden. Sonst funktioniert das System nicht. In diesem Zusammenhang
ist zentral: Für Forschende, sei es an den Universitäten oder in der Pharmaindustrie,
ist der Zugriff auf aggregierbare Daten entscheidend – das heisst, es geht um
anonymisierbare Angaben, die sich zu möglichst grossen Sets zusammensetzen
lassen. Die Forschenden haben kein Interesse daran, Rückschlüsse auf einzelne
Patienten zu ziehen. Die Pharmaindustrie ist auch keine Werbeindustrie. Dass
die Unternehmen mit sensiblen Daten verantwortlich umgehen können, beweisen sie
in ihren klinischen Studien seit über hundert Jahren.
Für die ganze
Gesellschaft: Transparentere und nachhaltigere Gesundheitssysteme
Datenökosysteme ermöglichen es auch, das Gesundheitssystem
transparenter, wirksamer und nachhaltiger zu gestalten. Und somit einen grossen
Mehrwert für die ganze Gesellschaft zu schaffen. Die Erfahrungen während der
Pandemie haben das mehrfach gezeigt. Gesundheitsdatenökosysteme verbessern und
beschleunigen Zulassungsverfahren – denn sie erlauben neue, zum Beispiel
dezentrale Designs für klinische Studien. In diesen können Patienten von
zuhause aus ihre Daten selber erfassen, müssen nicht in ein Krankenhaus und
gehen einem erhöhten Infektionsrisiko somit aus dem Weg. Synthetische Kontrollarme
lassen sich ausserhalb klinischer Studien mit so genannten Realweltdaten bilden.
Das löst das ethische Dilemma, kranken Patienten ein Placebo verabreichen zu
müssen. Der Zugang zu Gesundheitsdaten erhöht die Pharmakovigilanz, die
Überwachung und Sicherheit der Medikamente. Israel kann mit seinen
Infrastrukturen Daten über die Wirksamkeit der Impfstoffe liefern– und damit
die Diskussionen um Booster-Impfungen auf ein datenbasiertes Fundament stellen.
Vernetzte Gesundheitsdatenökosysteme würden es zudem erlauben,
die tatsächlichen Ergebnisse beim Patienten ins Zentrum zu rücken und diese zu
entschädigen. Heute orientiert sich das System an der Dienstleistung ohne
Berücksichtigung der Qualität der Behandlungsresultate. Auch wäre zu erwarten,
dass sich in einem Gesundheitsdatenökosystem der Fokus stärker auf die
Prävention richtet, also auf die Förderung und Erhalt der Gesundheit der
Menschen.
Schweiz abgeschlagen,
aber nicht abgehängt
Während viele Länder den Wert von Gesundheitsdatenökosystemen
erkannt haben, hinkt die Schweiz hinterher. Im digital health index der
Bertelsmann-Stiftung von 2018 liegt sie abgeschlagen auf Rang 14 von 17
betrachteten Ländern. Am schlechtesten schneidet sie bei der tatsächlichen
Nutzung von Daten ab. Mit anderen Worten: Gesundheitsdaten hängen oft in Silos
fest, sind meist weder digitalisiert noch strukturiert und können folglich
nicht geteilt werden.
Wie sich diese Rückstände bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens nicht nur nachteilig auf die Patientinnen und Patienten wie auch der öffentlichen Gesundheit auswirken, sondern auch auf den Forschungsstandort Schweiz, zeigt eine Studie von BAK economics. Die Forscher haben einerseits festgestellt, dass digitale Elemente bei Patentanmeldungen in der Pharmaindustrie, ein Indikator für Innovation, immer wichtiger werden. Andererseits, und dieser Befund ist für die Schweiz besorgniserregend: Diese Pharmainnovationen mit digitalen Elemente werden nicht in der Schweiz erzielt, sondern in San Francisco, Boston, Singapur und Tokio. Und an all diesen Forschungsstandorten mit mehr Dynamik.
Es ist aber noch nicht zu spät. Die Schweiz hat nämlich
viele Vorteile, die sie für ein funktionierendes qualitativ hochstehendes
Gesundheitsdatenökosystem nutzen könnte. Stichworte sind: politische
Stabilität, vertrauensstiftenden demokratischen Strukturen,
Weltklasse-Hochschulen und Spitzen-Wissenschaftler sowie die hochinnovative
Life Science-Industrie.
Der finnische
One-Stop-Shop
Auch ausländische Erfolge beim Aufbau von Gesundheitsdatenökosystem
können eine gute Inspiration sein: Zum Beispiel Finnland.
Das finnische Erfolgsrezept hat mehrere Zutaten:
In Finnland sind nahezu 100 Prozent aller
Patientendaten und Krankheitsregister in elektronsicher Form vorhanden. Mit
anderen Worten: Es gibt in Finnland viele digitalisierte und strukturierte
Daten, die nicht in Silos festhängen und auch geteilt werden können.
Finnland hat die Sozialversicherungsnummer als
persönlichen Identifikator festgelegt. Dadurch sind Daten nicht nur
strukturiert, sondern vernetzbar.
Finnland hat ein Opt-out-System. Das bedeutet,
Patienten müssen sich nicht einverstanden erklären, dass ihre Daten geteilt
werden. Sondern dieses Einverständnis gilt als gegeben, bis sie es aktiv
widerrufen. Das macht aber in Finnland praktisch niemand, nur 250 von 5.5
Millionen Einwohnern.
Rechtlich basiert das finnische System auf einem
Gesetz für die Sekundärnutzung von Gesundheits- und Sozialdaten, das dort 2019
in Kraft trat. Es regelt die Verantwortlichkeiten von Findata, der finnischen
Aufsichtsbehörde. Diese ist ein one-stop-shop für alle Akteure, die Daten
nutzen möchten. Sie stellen einen Antrag, Findata beurteilt diesen. Wenn er
bewilligt wird, sammelt Findata die Daten, verlinkt und anonymisiert sie. Dann
werden sie freigegeben.
Sechs Handlungsfelder
weisen den Weg zum Gesundheitsdatenökosystem
Was muss also die Schweiz tun, um ihr eigenes Gesundheitsdatenökosystem aufzubauen? Zuerst einmal braucht es politischen Willen und Führung. Dabei müssen beim Aufbau von Beginn an alle Anspruchsgruppen konsequent miteinbezogen werden. Und letztlich bedingt ein funktionierendes Gesundheitsdatenökosystem eine kohärente Strategie. Wie diese aussehen könnte, hat Interpharma mit einer Task Force aus Industrieexperten erarbeitet und legt dies zur öffentlichen Diskussion vor. Die sechs Handlungsfelder der Roadmap zum Gesundheitsdatenökosystem sind:
Aufbau von technologische Infrastrukturen, mit denen Daten erhoben, gespeichert und geteilt werden können. Diese Infrastrukturen können zentral oder dezentral sein, sie können von der öffentlichen Hand oder von Privaten gebaut werden. Wichtig ist – in Analogie zum Strassenverkehrsnetz-, dass sie zentral orchestriert werden, damit die einzelnen Strassen und Spuren miteinander verbunden sind. Für diese Rolle – das hat die Abstimmung über die E-ID gezeigt – kommt eigentlich nur der Staat in Frage.
Etablierung von ethischen und technischen Standards zu Sicherheit, aber auch zur Qualität und Form der Daten und Schnittstellen. Einerseits schafft dies das nötige Vertrauen, andererseits gewährleistet es Interoperabilität. Ein Ansatzpunkt dazu existiert bereits mit dem Swiss Personalised Health Network (SPHN), das eine solche gemeinsame Sprache entwickelt.
Orchestrierte, technologische Infrastrukturen und eine gemeinsame Sprache alleine genügen nicht. Es braucht digitale Kompetenz auf allen Stufen: vom Anwender bis zur Spezialistin. Das bedeutet, dass die grundlegenden Fähigkeiten, mit Daten umzugehen, in sämtlichen Lehrplänen verankert werden müssen. Sie müssen auch Teil der Aus- und Weiterbildung im Gesundheitswesen sein.
Der vierte Punkt bezieht sich auf den rechtlichen Rahmen. Es muss klar sein, wer was teilen darf. Zurzeit regelt in der Schweiz ein rechtlicher Flickenteppich die Datennutzung: etwa im Humanforschungsgesetz oder dem Gesetz über das elektronische Patientendossier. Leider gibt es Lücken. Das führt zu Rechtsunsicherheit und unterminiert das Vertrauen. Ein robustes Datenschutzgesetz ist wichtig, das gibt es in der Schweiz. Es fehlt aber ein Datennutzungsgesetz, so wie es in Finnland existiert. Ein solches wäre auch für die Schweiz zu erwägen.
Der rechtliche Rahmen muss zudem auch für Anreize sorgen Gesundheitsdaten zu erheben und zu strukturieren, damit sie weiterverwertet werden können. Diese Investitionen sind aufwändig und werden momentan im Gesundheitssystem oft nicht vergütet.
5. Das fünfte Handlungsfeld betrifft die nachhaltige Finanzierung. Die Grundinfrastruktur des Systems hat den Charakter eines öffentlichen Gutes. Folglich hat die öffentliche Hand eine wichtige Rolle inne. Das heisst aber nicht zwangsläufig, dass sie dies gratis zur Verfügung stellen muss. Wie mit der Autobahn-Vignette könnte der Staat auch für den Zugriff auf Daten Gebühren erheben und so eine nachhaltige Finanzierung sicherstellen. Darüber hinaus müssen auch Private in den Aufbau von Teil-Ökosystemen investieren. In diesem Punkt lässt sich aufzeigen, was mit Kohärenz gemeint ist: Wenn mit abgestimmten Massnahmen in den anderen Bereichen die richtigen Rahmenbedingungen gesetzt werden, dann fliessen diese private Investitionen auch – und die Gesellschaft wird über positive Spillover-Effekte davon profitieren.
6. Damit bleibt der letzte und wichtigste Punkt: Ein Gesundheitsdatenökosystem bedingt gesellschaftliche Akzeptanz und Beteiligung. Wir müssen in der Schweiz eine gemeinsame Vision etablieren, eine breit abgestützte Vorstellung vom kollektiven Wert eines Gesundheitsdatenökosystems und dem gesellschaftlichen Nutzen des Datenteilens. Es muss sich die Gesinnung durchsetzen, dass Datenspenden das neue Blutspenden ist – so wie es Professor Elgar Fleisch ausdrückt. Erst dann wird sich ein Ökosystem entwickeln.
Fazit: Wir müssen den
Aufbau jetzt anpacken
Der gewaltige Mehrwert von Gesundheitsdatenökosystemen ist
unbestritten. Deshalb haben sie in verschiedene Staaten seit Jahren politische
Priorität. Die EU etwa treibt mit Nachdruck den Aufbau eines EU Health Data
Space voran. Die Schweiz muss sich beeilen, wenn sie international den
Anschluss als Forschungsstandort nicht verpassen und ihr Gesundheitssystem auf
ein nachhaltiges Fundament stellen will. Noch ist es nicht zu spät. Die
Investitionen, die wir heute tätigen, werden sich künftig um ein Mehrfaches
auszahlen. Deshalb ist es jetzt Zeit, gemeinsam eine ganzheitliche Strategie zu
entwickeln und ein Gesundheitsdatenökosystem aufzubauen.
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