«Ich wünsche mir einen Paradigmenwechsel» - Interpharma

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10. Mai 2019

«Ich wünsche mir einen Paradigmenwechsel»

Ein Forschungszentrum der Universität Luzern im Fachbereich Rehabilitation arbeitet neu mit der WHO zusammen. Der Rheumatologe, Rehabilitationsmediziner und Gesundheitswissenschaftler Prof. Gerold Stucki erläutert die Ziele des Kooperationsprojekts.

Herr Prof. Stucki, Sie leiten an der Universität Luzern das Seminar für Gesundheitswissenschaften und Gesundheitspolitik und sind zugleich Direktor des ‘Center for Rehabilitation in Global Health Systems’, welches kürzlich als offizielles Kollaborationszentrum der WHO eröffnet wurde. Wieso wurde dieses Zentrum ins Leben gerufen?

Prof. Gerold Stucki: Unser Gesundheitssystem ist im Bereich der heilenden (kurativen) Medizin weit entwickelt, und auch die Bereiche Vorbeugung (Prävention) und Gesundheitsförderung sind gut etabliert. Unterentwickelt ist dagegen das Gebiet der Rehabilitation, und dies, obwohl der Bedarf hier in Zukunft massiv steigen wird. Die Bevölkerung wird immer älter, chronische Krankheiten nehmen zu, und viele Menschen, die früher gestorben sind, haben weitere Lebensjahre vor sich. Denken Sie an Krankheiten wie Krebs oder HIV.

In Luzern wird seit langem im Bereich Rehabilitation geforscht. Sie ist ein grosses Thema an unserer geistes- und sozialwissenschaftlichen Universität. Die wissenschaftliche
Tätigkeit erfolgt dabei in Zusammenarbeit mit der ‘Schweizer Paraplegiker-Forschung’, einer ausser-universitären Forschungsinstitution angegliedert an die Schweizer Paraplegiker Gruppe in Nottwil (LU). Mit dieser Kooperation schlagen wir den Bogen von der akademischen zur angewandten Forschung, von der in Nottwil Menschen mit einer Querschnittlähmung profitieren.

Das Zentrum, das Sie an der Universität Luzern leiten, untersucht Rehabilitation «in globalen Gesundheitssystemen». Woher rührt dieser globale Fokus?

Wir sind seit zehn Jahren national, vor allem aber auch international unterwegs. Das wird zum Beispiel beim Thema Querschnittslähmung anschaulich: Wir haben eine Schweizer Kohortenstudie – die Swiss Spinal Cord Injury Cohort Study (SwiSCI) – etabliert. Nach diesem Vorbild wurde 2017 zum ersten Mal auch in über zwanzig weiteren Ländern eine Befragung (International Spinal Cord Injury Survey – InSCI) durchgeführt. Dieser internationale Zugang ist sinnvoll, denn wer verschiedene Gesundheitssysteme vergleicht, findet Best-Practice-Beispiele und kann von ihnen lernen.

Wenn wir von «global» sprechen, meinen wir wirklich alle Länder, also low, middle und high income countries. Gerade im Bereich der Rehabilitation können wir von Ansätzen in middle income countries lernen. Diese sind in der ambulanten, community-basierten Versorgung sehr viel stärker als wir entwickelten Länder, die ein sehr Spital-basiertes Modell haben.

Bei ‚Rehabilitation‘ denkt man vielleicht als erstes an Physiotherapie nach einem Beinbruch oder an den Kuraufenthalt nach einer Operation. Sie stellen Rehabilitation gerade auch in den Zusammenhang mit chronischen Erkrankungen. Warum?

Wir verstehen unter Rehabilitation alle Massnahmen, die dazu dienen, die Funktionsfähigkeit eines Menschen zu erhalten. Menschen mit chronischen Erkrankungen brauchen Unterstützung, um funktionsfähig zu bleiben, um also ihren Alltag meistern und soziale Kontakte weiterhin pflegen zu können. Was für Menschen mit chronischen Leiden gilt, gilt für ältere Menschen ganz allgemein: Wenn die körperliche, aber auch die geistige Funktionsfähigkeit abnimmt, muss das nicht einfach hingenommen werden. Wir können Muskelkraft, Beweglichkeit und Ausdauer, aber auch kognitive Kompetenzen wie Gedächtnis und Problemlösungsfähigkeit trainieren.

Auch wenn die Leistungsfähigkeit im Alter unweigerlich abnimmt, können wir die Funktionsfähigkeit im Alltag auf dem bestmöglichen Niveau optimieren. Das ist auch wichtig, um die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe zu erhalten. Die Fähigkeit, mit dem Auto fahren zu können, entscheidet mitunter darüber, wie weit jemand noch Kontakte zu anderen Menschen pflegen kann. Eine Hüftarthroplastik (Gelenkersatz) kann da entscheidend sein. Und von entscheidender Bedeutung ist auch die pharmakologische Intervention.

Die Zunahme von chronischen Erkrankungen im Zuge unserer alternden Gesellschaft ist der dominante Grund, dass Rehabilitation künftig so viel wichtiger wird. Rehabilitation betrifft aber nicht nur das hohe und mittlere Alter, sondern kann schon in der Kindheit relevant werden. Ich nenne als Beispiel die sogenannten survivors of childhood cancer, also Menschen, die in der Kindheit eine Krebserkrankung durchlitten haben. Diese Kinder werden durch Krebs aus dem Leben gerissen, und sie leiden später in aller Regel an einer eingeschränkten Funktionsfähigkeit – was die körperlichen Fähigkeiten angeht, aber auch hinsichtlich der Bewältigung des Alltags. Rehabilitation hilft ihnen, die Funktionsfähigkeit zu verbessern.

Welche Rolle spielen Medikamente im Bereich der Rehabilitation?

Die pharmakologische Behandlung ist ein integraler Bestandteil der Rehabilitation. Das A und O der Rehabilitation ist die Schmerzbehandlung, oft verbunden mit einer optimalen Entzündungsbehandlung, dies immer unter Berücksichtigung der zugrunde liegenden Krankheit, die sehr unterschiedlich sein kann. Medikamente sind auch wichtig in der Muskelbehandlung, beispielweise wenn nach einem Schlaganfall eine krankhaft erhöhte Eigenspannung (Spastizität) vorliegt. Wir wissen, dass viele Menschen von Muskelstoffwechsel-Interventionen profitieren würden, beispielsweise von der Gabe von Kreatin oder Carnitin. Etliche Krankheiten führen nämlich zu einer Beeinträchtigung der Stoffwechselfunktionen und verhindern, dass wir ein gutes Krafttraining machen können. Medikamente sind zusätzlich gefragt bei der Erhaltung der geistigen Leistungsfähigkeit; hier gibt es aussichtsreiche neue Ansätze. Und wichtig zu erwähnen: Wenn Patientinnen und Patienten etwa an Durchblutungsstörungen wegen Bettlägerigkeit leiden, die zu einem Dekubitus (Druckstellen) führen kann, hilft ebenfalls eine pharmakologische Intervention.

Ihr Zentrum arbeitet seit kurzem mit der Weltgesundheitsorganisation WHO zusammen. Wenn ich etwas flapsig fragen darf: Was geben Sie? Was bekommen Sie?

Ich arbeite seit zwanzig Jahren mit der WHO zusammen, und das ‘Center for Rehabilitation in Global Health Systems’ an der Universität Luzern ist eine Fortsetzung dieser Zusammenarbeit. Kooperationen mit der WHO sind unglaublich spannend, und vor allem haben solche Projekte einen grossen Impact. Die WHO orientiert sich bei ihrem Agenda Setting nämlich an den Bedürfnissen der Länder weltweit. Daher haben WHO-Projekte stets eine hohe Relevanz, da sie in allen Gesundheitssystemen weltweit wirksam werden.

Und was bekommt die WHO aus Luzern?

Wie oben ausgeführt zielen Rehabilitationsmassnahmen immer darauf ab, die Funktionsfähigkeit eines Menschen zu optimieren. Wir haben in Luzern Werkzeuge entwickelt, die helfen, Funktionsfähigkeit zu erfassen und zu vergleichen. Grundlage dafür ist die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). In der Forschung mit und zur ICF ist Luzern weltweit führend. Unser Wissen bringen wir in die Forschungsleistungen ein, die wir für die WHO erbringen.

Wenn Sie sich vor dem inneren Auge die Schweiz des Jahres 2050 ausmalen: An welchen Stellen wird dann Rehabilitation eine Rolle spielen, wo sie heute vielleicht noch keine oder keine grosse Rolle spielt?

Ich wünsche mir, dass wir bis dahin einen Paradigmenwechsel vollzogen haben werden, von einem krankheitsorientierten Ansatz in der Gesundheitsversorgung zu einem personenorientierten Ansatz. Im heutigen Gesundheitssystem wird ein Mensch gesehen in Bezug darauf, welche Krankheit er hat. Das aber greift zu kurz. Die Akteure des Gesundheitswesens sollten ihr Handeln aber vielmehr darauf ausrichten, die Funktionsfähigkeit eines Menschen so gut wie möglich wiederherzustellen bzw. zu erhalten. Dafür müssen wir in einem ersten Schritt die Funktionsfähigkeit des Menschen, den wir vor uns haben, evaluieren und bestimmen, und im zweiten Schritt dann schauen, was wir tun müssen, um diese zu verbessern bzw. zu erhalten. Dazu gehören – wie bisher – Diagnostik von Krankheiten und deren Therapie. Dazu gehören aber auch die Stärkung der Person, Empowerment und Hilfe zum Selbstmanagement sowie der Wechsel von krankheits- zu funktionsorientierter und damit personenzentrierter Gesundheitsversorgung. So bringen wir die künftige Gesundheitsversorgung auf eine neue Stufe.

Michèle Sierro

Responsable communication Suisse romande

+41 79 305 84 30

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